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Archiv-Artikel

Der No-Name-Verteidiger

Dank Per Mertesacker wirkt der deutsche Abwehrblock bislang überraschend gefestigt

AUS BERLIN MARKUS VÖLKER

Das meistgebrauchte Verb im deutschen Lager ist „wachsen“. Die Mannschaft wächst, hört man von Jürgen Klinsmann. „Wir wachsen zusammen“, sagt Joachim Löw. „Wir werden noch weiter wachsen“, glaubt Manager Oliver Bierhoff. Der Mensch wächst in der Kindheit und Pubertät. Steckt das Team also noch in der Adoleszenz? Muss es erst noch erwachsen werden? Per Mertesacker, 21, würde diese Fragen sicher verneinen, denn die Auswahl des Deutschen Fußball-Bundes spielt derzeit altersweisen Fußball auf einem Niveau, das einigermaßen verblüfft.

Vor der Weltmeisterschaft hatte man gedacht, dieses Team, jung und ambitioniert, wird ein paar Reifeprüfungen überstehen, die WM als Volontariat begreifen, aber nun, da bereits vier Siege zu Buche stehen, alle Welt nur noch vom Weltmeistertitel redet und die Argentinier, Gegner im Viertelfinale am Freitag, zur Marginalie zu verkommen drohen, ist keine Rede mehr von Kickern in Ausbildung. Sie haben eine Zeitmaschine bestiegen, einen Entwicklungsbeschleuniger – und sind aus diesem Vehikel als andere Fußballer hervorgegangen: Vor allem Per Mertesacker, 1,98 Meter groß gewachsen, der bei diesem Championat die besten Zweikampfwerte eines deutschen Defensivspielers aufweist: Überragende 82 Prozent seiner Eins-zu-eins-Begegnungen mit gegnerischen Angreifern hat Mertesacker während der WM bislang für sich entschieden und ist dabei auch noch außergewöhnlich fair geblieben: In den bisherigen vier Spielen hat er nur ein einziges Foul begangen. Die Viererkette, die der Profi von Hannover 96 an zentraler Stelle verschweißt hat, versperrt plötzlich den gegnerischen Angreifern den Weg in den Strafraum, steht kompakt und gibt wenig Anlass zu Sorge. Costa Rica ist vergessen. Viva Argentina!

Noch vor einem Jahr wusste Mertesacker nicht, wo er steht. Klinsmann hatte einen Narren an ihm gefressen, vertraute diesem No-Name-Verteidiger bedingungslos. Der wusste nicht recht, wie ihm geschieht. „Das ist ein unglaublicher Prozess“, sagte er seinerzeit, „das geht ratz, fatz.“ Aus dem Zivi und Jungprofi sollte der Bollwerker der Bundeskicker werden – kein leichter Auftrag. Staunend und distanziert beschaute er sich anfangs den Kosmos der Klinsmannschaft, aber er hat „den Moment gegriffen“. Während des Confed-Cups spielte er schon so gut, dass die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb: „Hohe Bälle schluckt er so plötzlich wie der Leguan das nichts ahnende Insekt.“ Und die Süddeutsche Zeitung bescheinigte ihm „verwegene Souveränität“.

Seine Initiation erlebte Mertesacker ein Jahr später, im Spiel gegen Polen. Nach dem 1:0-Sieg brach es aus ihm heraus, nicht nur die Freude über den späten Erfolg, sondern auch die Genugtuung darüber, es seinen Kritikern gezeigt zu haben, jenen, die ihn für einen hölzernen Lulatsch gehalten haben, die in ihm keinen züngelnden Leguan sehen wollten, sondern vielmehr eine staksende Giraffe, die mal lieber auf Korbjagd beim Basketball gegangen wäre. Ihnen reckte er die Faust entgegen. Der gewachsene Mertesacker kann jetzt auch schon mal patzig werden in der Mixed Zone und schroff antworten. Aus dem netten Recken ist ein Profi geworden, der begriffen hat, dass er sich nicht ausliefern muss. Die Faust – das war ein klare Ansage.

„Ich keife meine Vorderleute jetzt auch mal an“, sagt er. Davor hat er keine Scheu mehr. Mertesacker ist lauter geworden, spielt nun doch den Teilzeitchef in der Innenverteidigung. Neulich hat er Journalisten, die gern die Führungsspieler-Frage stellen, geantwortet: „Warum wollen Sie immer ’ne Chefrolle haben?“ Die Arbeit in der Abwehr beruhe schließlich auf einem „Wechselspiel“ unter Gleichberechtigten, die sich „ergänzen“, hat er erklärt. Und: „Es gibt auch Etagen mit mehreren Chefs.“ Mertesacker sitzt auf einer der mittleren Etagen. Noch. In ein paar Jahren wird er der Boss im Bollwerk sein, aber in diesen Tagen muss er nichts übers Knie brechen. Er hat ja noch Christoph Metzelder, 25, an seiner Seite, der zwar schlechter spielt, aber deutlicher formuliert: „Wir spielen zwar Viererkette, aber wir hatten verschiedene Philosophien.“ Nach den beiden Gegentoren gegen Costa Rica aber habe man „sich geeinigt“ und die Kette so stabilisiert. Auch hier wächst zusammen, was zusammengehört.